Anlässlich des Jahrestags der Zerstörung Dresdens durch britische und amerikanische Luftangriffe erinnert Dankwart Guratzsch in der WELT an die zweite Zerstörung der Stadt. So hätte man nach 1945 zahlreiche Bauwerke der Innenstadt wieder aufbauen können, hätte man sich nicht für eine Großflächenenttrümmerung entschieden. Guratzsch verweist auf das von Matthias Lerm verfasste Buch „Abschied vom alten Dresden“, das diese Vorgänge detailliert schildert. Die Ideologie hinter diesen flächendeckenden Abrissen sieht Guratzsch begründet vom umstrittenen Schweizer Architekten Le Corbusier, der schon in den 1920er Jahren ganze Städte hatte abreißen wollen und mit diesem Wunsch nicht allein stand. Auch Bruno Taut und der Frankfurter Stadtbaurat Ernst May träumten vom Ende der europäischen Stadt.
Indes sei die Ideologie eines großflächigen Neuanfangs mit den Mitteln des seriellen Bauens bereits kurz vor Kriegsende von der nationalsozialistischen Führung ausgerufen worden unter der Parole „Bauordnung auf dem höchsten Gipfel: Bauen im ganz Großen“. Diese habe die „Generallinie für den deutschen Wiederaufbau“ sowohl in Ost- wie in Westdeutschland gebildet. „Dabei wurden nicht nur in Dresden, sondern deutschlandweit tausende Kulturdenkmale abgeräumt, Stadtgrundrisse zerstört, Verkehrsschneisen durch die Städte geschlagen und die städtischen Funktionen Handel, Verkehr, Wohnen, Freizeit in separierte „Zellen“ auseinandergerissen. Ein Jahrtausend Stadtbaukultur wanderte auf Trümmerhalden und Müllkippen.“ Die Stadt Dresden sei zu einem „Paradebeispiel dieser Zeitenwende im Bauen“ erkoren worden. Widerspruch wurde von der SED-Führung selbstverständlich nicht geduldet. So wurden Gegner dieses Zerstörungswerks als „Verfechter der bürgerlichen Ideologie“ und „alter monarchistisch-bürgerlicher und klerikaler Auffassungen des Städtebaus“ verunglimpft. Deulicher drückte es Dresdens Oberbürgermeister Walter Weidauer aus: „Die vereinigte Opposition macht gegenwärtig einen Generalangriff auf unser sozialistisches Dresden.“ Im Westen fanden allerdings Beräumungen in gleichem Maßstab statt, denn „in Wahrheit ging es hier wie da um nichts anderes als die Durchsetzung von Bauauffassungen, die sie alle an den Hochschulen der 1920er-Jahre gelernt hatten, und um die Beseitigung der Bausubstanz, die deren Umsetzung im Wege stand.“
Wie Lerm berechnet hat, hätten in Dresden mindesten zwei Drittel der Altstadt gesichert und später wiederaufgebaut werden können. In West wie Ost war es der gemeinsame Hass auf die Geschichte, dem die Städte nach ihrer Bombardierung durch Abriss zum Opfer fielen. „Ein sich steigernder Hass auf die Geschichte verführte dazu, Kulturepochen der Vergangenheit zu denunzieren und zu diffamieren, um sie desto ungestörter dem Verfall und der Beseitigung überantworten zu können.“ Dresden hat dennoch beinahe Glück gehabt, denn noch weitaus mehr in Trümmern liegende Bauwerke sollten abgerissen werden: Semperoper, Sempergalerie, Schinkelwache, Schloss, Frauenkirche. Warnend im Blick auf das Fortleben dieser Ideologie des Abrisses schließt Guratzsch: „Worum tatsächlich gekämpft wurde und in vielen Städten bis heute noch gekämpft wird, das war und ist das architektonische Erbe. Es ist einem Kulturkampf ausgeliefert, der sich in wechselnder Verkleidung mal als Klassenkampf, mal als Modernisierung, mal als Klimaschutz, mal als sozialer Wohnungsbau, mal als Rationalisierung und Effektivierung des Bauwesens maskiert, aber von dem von Erich Kästner gerühmten Einklang von Vergangenheit und Gegenwart nichts weiß und nichts wissen will.“