Pressemitteilung der Bundesstiftung Baukultur: 50 Stadtbauräte, Dezernenten und Planungsamtsleiter aus über 40 deutschen Städten fordern eine grundlegende Novellierung der Baunutzungsverordnung BauNVO und der Verwaltungsvorschrift TA-Lärm, damit in Zukunft schöne und lebensfähige Stadtquartiere planbar werden

50 Stadtbauräte, Dezernenten und Planungsamtsleiter aus über 40 deutschen Städten, darunter Hamburg, Hannover, München, Köln, Bochum, Freiburg, Stuttgart und Frankfurt am Main haben die „Düsseldorfer Erklärung zum Städtebaurecht“ unterzeichnet. Sie fordern eine grundlegende Novellierung der Baunutzungsverordnung BauNVO und der Verwaltungsvorschrift TA-Lärm, damit in Zukunft schöne und lebensfähige Stadtquartiere planbar werden und nicht an überholten planungsrechtlichen Restriktionen scheitern.

Die Initiatoren dieser Erklärung Prof. Christoph Mäckler und Prof. Dr. Wolfgang Sonne vom Deutschen Institut für Stadtbaukunst, Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, Barbara Ettinger-Brinckmann, Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, Prof. Jörn Walter, Oberbaudirektor a.D. Hamburg und Prof. Peter Zlonicky, München, veröffentlichen hiermit die „Düsseldorfer Erklärung zum Städtebaurecht“ und stellen sie am 14. Mai 2019 bei einem parlamentarischen Frühstück in Berlin vor. Die Erklärung ist bereits von zahlreichen Verbänden, Architekten und Wissenschaftlern unterschrieben worden.

Im Verständnis dessen, was ein gemischtes Stadtquartier im Unterschied zur Siedlung eigentlich ausmacht, ist bereits einiges erreicht. Doch die Baugesetzgebung steht der Realisierung solcher gemischter Stadtquartiere noch immer entgegen: So stammen Vorschriften, wie die Baunutzungsverordnung, aus einer Zeit, in der man die dichte Stadt durch aufgelockerten Siedlungsbau überwinden wollte. Und auch die Lärmschutzverordnung untermauert die Entstehung bislang rein monofunktionaler Stadtquartiere. Die Folge dieser Baugesetzgebung ist, dass Stadtquartiere, wie sie bereits seit Jahrhunderten in der Europäischen Stadt bestehen, optimal funktionieren und äußerst beliebt sind, paradoxerweise nicht gebaut werden können – auch wenn es hierfür einen klaren gesellschaftlichen Bedarf gibt und dies bereits 2007 von den europäischen Bauministern in der Leipzig Charta gefordert wurde.

Nichts ist erledigt! Reform der städtebaulichen Gesetzgebung
Düsseldorfer Erklärung zum Städtebaurecht

In der „Leipzig-Charta zur nachhaltigen Europäischen Stadt“ haben sich die Bauminister Europas 2007 für eine Stärkung der Städte nach dem Leitbild der Europäischen Stadt ausgesprochen. Wie in den vielfältigen Quartieren der Europäischen Stadt ablesbar, gibt es fünf Voraussetzungen für einen gelungenen Städtebau:

– klare Trennung öffentlicher und privater Räume
– gute und dauerhafte Gestaltung von Häusern, Straßen- und Platzräumen
– funktionale Vielfalt
– soziale Vielfalt
– urbane Dichte

In den Stadtquartiersentwürfen unserer Zeit fehlen häufig diese fünf Voraussetzungen, wie sie in den Stadtquartieren der Europäischen Stadt zu finden sind und durch die sich die schöne und lebensfähige Stadt entwickelt. Dafür gibt es viele Gründe. Ein entscheidender Grund liegt in den gesetzlichen Bestimmungen zum Städtebau wie der Baunutzungsverordnung (BauNVO) mit ihren Nutzungskatalogen und Dichteobergrenzen, sowie in den Bestimmungen der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA-Lärm), die den Forderungen der Leipzig-Charta entgegenarbeiten, weil sie die funktionale Vielfalt behindern. Deshalb ist es an der Zeit, die Leipzig- Charta nun auch gesetzgeberisch zu unterstützen und umzusetzen. Nur so können diese fünf stadträumlichen und funktionalen Voraussetzungen für die Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt erfüllt werden, wie sie in der Leipzig-Charta wurden.

 

Die klare Trennung öffentlicher und privater Räume

Der öffentliche Raum von Straße und Platz:
Der öffentliche Raum bildet das Rückgrat eines jeden Stadtquartiers der Europäischen Stadt. Platz- und Straßenräume repräsentieren nicht nur das Gemeinwesen der Städte in einer demokratischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland, sondern sie sind auch die Räume, in denen sozialer Austausch, Handel, Verkehr und Kommunikation stattfinden. Der öffentliche Raum ist damit der Sozialraum der Europäischen Stadt.

Der öffentliche Grünraum der Stadt:
Der städtische Park, die Straßenallee oder der Boulevard der Stadt sind öffentliche Grünräume, die nicht nur der Schönheit und der Erholung dienen, sondern darüber hinaus auch einen hohen ökologischen Wert für das Stadtklima haben.

Der private Blockinnenraum:
Im Unterschied zu den öffentlichen Räumen steht der private Garten- und Hofraum, der im direkten Anschluss zu den Häusern der Stadt liegt und den Hausbewohnern damit als erweiterter Lebensraum mit Gärten, Kinderspielplätzen etc. zur Verfügung steht. Nur durch die klare bauliche Trennung vom öffentlichen Raum erhält der Hofbereich als privater Raum seine eigene funktionale Qualität, die einen hohen Stellenwert im Städtebau der europäischen Stadt hat.

Die gute und dauerhafte Gestaltung von Häusern, Straßen- und Platzräumen

In der Europäischen Stadt sind Plätze und Straßen in der Regel von Häusern umgeben, die diese städtischen Erschließungsflächen zu städtebaulichen Räumen werden lassen. Die Schönheit dieser Stadträume wird dabei zunächst von der Proportion, also dem Verhältnis von Breite zu Höhe bestimmt. Darüber hinaus sind die Fassaden der Häuser, die sich den Straßen und Plätzen zuwenden, von prägender Bedeutung für den öffentlichen Raum, den sie mit ihrem Gegenüber bilden. Wie im Städtebau muss auch in der Architektur der Häuser zwischen „vorne“ und „hinten“, zwischen „öffentlich“ und „privat“ unterschieden werden. Der Entwurf der Stadt benötigt den bewussten Einsatz von Straßen- und Platzfassaden.

Die funktionale und soziale Vielfalt

Grundlegende Voraussetzung für einen gelungenen integrativen Städtebau ist die Ermöglichung funktionaler und sozialer Vielfalt. Diese sollte möglichst nicht nur quartiersweise, sondern auch auf der einzelnen Parzelle entwickelt werden. Hierfür bedarf es geeigneter städtischer Gebäudetypologien, wie sie im Städtebau der Europäischen Stadt mit ihren Wohn– und Gewerbehöfen zu finden ist.

Die urbane Dichte

Das Stadtquartier der Europäischen Stadt verfügt über eine besondere bauliche Kompaktheit. Diese ist baulich energieeffizienter, verringert den Landflächenverbrauch, minimiert den Verkehr und ist damit durch geringeren CO2-Ausstoß klimafreundlich, erhöht die Effizienz des ÖPNV und befördert Fußläufigkeit und Fahrradmobilität (Stadt der kurzen Wege). Darüber hinaus ist eine hohe Bevölkerungsdichte die Voraussetzung für bestmögliche Versorgung.
Eine erhöhte städtebauliche Dichte entspricht auch unserer Verantwortung, den besonderen Anforderungen in Bezug auf Klimawandel und ein gesundes Leben in unseren Städten mit sauberer Luft und Ruhe gerecht zu werden. Diese Zielsetzungen sind unumstößlicher Bestandteil eines guten Städtebaus.

 

 

Um sozial und funktional vielfältige Stadtquartiere mit angemessener urbaner Dichte und schönen Stadträumen entwickeln zu können, bedarf es der grundlegenden Änderung einiger Gesetze, wie beispielsweise der Baunutzungsverordnung BauNVO und der TA-Lärm.

1. Soziale und funktionale Vielfalt versus Baunutzungskataloge BauNVO

Das vielfältige Stadtquartier muss prinzipiell die soziale und funktionale Mischung gewährleisten. Im Sinne dieser Vielfalt eines Quartiers sind die Nutzungskataloge der Baugebietstypen der BauNVO deshalb grundsätzlich zu überarbeiten:
– Das „Kleinsiedlungsgebiet“ und das „Reine Wohngebiet“ sind überholt und sollten gestrichen werden.
– im „Allgemeinen Wohngebiet“ bedarf es einer stärkeren Öffnung des Nutzungskataloges für Gebäude mit wohnverträglichem Gewerbe und moderner wohnverträglicher Produktion für freie Berufe sowie für Sportstätten.
– In der Zweckbestimmung von „Kerngebieten“ bedarf es einer generellen Aufnahme von Wohnnutzung.
– Im „Gewerbe- und Industriegebiet“ (§ 8, § 9 BauNVO) muss die dem primären Gebietscharakter widersprechende Ansiedlung von Nutzungen wie Handel, Beherbergungsbetriebe usw. effektiver verhindert werden. Gewerbe- und Industriegebiete sollten ausschließlich nur Nutzungen zugeordnet werden, die tatsächlich grundlegend stadtunverträglich sind.
Für die grundsätzlich notwendige funktionale Mischung im Stadtquartier muss es möglich werden, die gewerbliche Betätigung (z.B. moderne emissionsarme Produktionsweisen) zurück in die Stadt zu holen. Dies gilt neben Beherbergungsbetrieben gerade auch für Einzelhandelsbetriebe und solche Dienstleistungsbetriebe, die sinnvollerweise in der Nähe von Wohnnutzungen angesiedelt sein sollten. Die Nutzungs- wie auch die soziale Vielfalt sollte nicht nur auf das Quartier, sondern auch auf die einzelne Parzelle bezogen werden können. Geeignete städtische Haustypologien, die Wohnen in unterschiedlichen Preislagen und Kleingewerbe ermöglichen, finden sich bereits heute im Städtebau der Europäischen Stadt mit ihren Wohn- und Gewerbehöfen.

2. Funktionale Vielfalt versus TA-Lärm
Der Schutz vor Lärm in der funktional gemischten Stadt ist ausdrücklich zu gewährleisten. Die technischen Möglichkeiten des aktiven und passiven Lärmschutzes müssen durch geänderte immissionsschutzrechtliche Vorgaben auch für gewerbliche Nutzungen und Freizeitlärm möglich gemacht werden.

Grundsätzlich bedarf es der Zulässigkeit des passiven Lärmschutzes zum Schutz von Gewerbelärmemissionen, um die funktionale Mischung im Stadtquartier zu ermöglichen, denn die Lebensfähigkeit der Europäischen Stadt wird erst durch die funktionale Mischung und Vielfalt ermöglicht.

Deshalb ist die Überwindung des durch das Bundesimmissionsschutzgesetz (BlmSchG) mit seinen Verordnungen eines zweiteiligen Lärmrechts für Verkehr einerseits und Gewerbe andererseits unumgänglich, um die funktionale und auch die soziale Mischung im Stadtquartier wieder zu ermöglichen. Mit der heutigen Wirtschaftsstruktur, in der industrielle und gewerbliche Betriebe mit erheblichem Produktionslärm die Ausnahme darstellen, und durch den technischen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte bei Schallschutzfenstern, ist das zweiteilige Lärmrecht überholt.

 

3. Urbane Dichte versus Dichte-Obergrenzen der BauNVO
Prinzipiell ist im vielfältigen Stadtquartier der Schutz vor zu engen Wohnhöfen, wie sie die Stadt der Industrialisierung hervorbrachte, zu gewährleisten. Die heutige Baunutzungsverordnung entspricht jedoch einem Städtebau, der auf überholten Planungsideen fußt und von einer grundsätzlichen Funktionstrennung der Stadt (hier Arbeiten/dort Wohnen) ausgeht. Im Sinne dieser Ideen war die Geschossflächenzahl (GFZ) mit ihren Obergrenzen wie auch die Grundflächenzahl (GRZ) in der in den sechziger Jahren entstandenen Baunutzungsverordnung nachvollziehbar, um eine mathematische Festlegung der zu planenden Baumassen regeln zu können. Dies ist aus damaliger Zeit verständlich; heute aber sind diese Obergrenzen (auch mit Ausnahme § 17.2 BauNVO) bei wachsenden Wohnflächenansprüchen für den Entwurf von Stadtquartieren absolut untauglich. Rein rechnerisch haben Anfang des 20. Jahrhunderts viermal mehr Menschen in den Gründerzeitquartieren gewohnt als heute, was die Unzeitgemäßheit dieser Regeln einmal mehr verdeutlicht.
 Obwohl stadträumlich ohne jede Aussagekraft, sind die mathematischen Verhältniszahlen der GFZ und ihre Obergrenzen in der BauNVO bis heute grundlegender Bestandteil eines jeden rechtskräftigen Bebauungsplans. Mit der Einführung des „urbanen Gebietes“ ist die Dichte-Obergrenze mit einer GRZ von 0,8 und einer GFZ von 3,0 für dieses Quartier zwar angehoben worden, für alle anderen derzeit in Planung befindlichen Baugebiete aber bestehen noch immer die Obergrenzen des § 17 BauNVO (Allgemeine Wohngebiete GFZ 1,2). Dies steht den Anforderungen des gemischten vielfältigen Stadtquartiers der Europäischen Stadt diametral entgegen. Die Dichteobergrenzen im § 17 BauNVO der Baunutzungsverordnung müssen daher prinzipiell entfallen.

4. Zusammenfassung

Es bedarf einer grundlegenden Novellierung der Baunutzungsverordnung BauNVO mit ihren Dichteobergrenzen und Nutzungskatalogen sowie des zweiteiligen Lärmrechtes der TA-Lärm, damit in Zukunft schöne und lebensfähige Stadtquartiere, wie sie die Leipzig-Charta fordert, planbar werden und nicht an überholten planungsrechtlichen Restriktionen scheitern.

Barbara Ettinger-Brinckmann, Präsidentin Bundesarchitektenkammer
Prof. Christoph Mäckler, Deutsches Institut für Stadtbaukunst
Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur
Prof. Dr. Wolfgang Sonne, Deutsches Institut für Stadtbaukunst
Prof. Jörn Walter, Oberbaudirektor a.D. Freie und Hansestadt Hamburg
Prof. Peter Zlonicky, Stadtplaner und Professor em. TU Dortmund und TU Hamburg-Harburg