Rekonstruktion im Zeitalter der Moderne – Dresden als Zentrum städtebaulicher und architektonischer Debatten

 

Dieser Beitrag erschien erstmals im Jahr 2019 zeitgleich in der Festschrift der GHND „Dresden – Der Wiederaufbau des Neumarkts“ und in den Dresdner Heften Nr. 137 „Moderne in Dresden. Spurensuche in einer »Barockstadt«“.

 

Von Torsten Kulke

 

Dresden steht seit nunmehr fast drei Jahrzehnten im Zentrum städtebaulicher und architektonischer Debatten in Deutschland. Von hier gingen bedeutende Impulse für die Rekonstruktionen des Berliner Stadtschlosses, des Potsdamer Stadtschlosses, des Dom-Römer-Areals in Frankfurt/M. oder auch des Alten Marktes in Potsdam aus. Jüngste Beispiele sind die Planungen für ein Altstadtquartier in Lübeck und die Diskussion im Bauhaus-Jahr um die Rekonstruktion des Schlossplatzes in Dessau. Ausgangspunkte all dieser Diskussionen und Bürgerinitiativen sind die Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche und die Neugestaltung des Dresdner Neumarktes. Diese beiden bedeutenden Wiederaufbauleistungen in Dresden haben eine schon beendet geglaubte Diskussion über Städtebau und Architektur kriegszerstörter Innenstadtquartiere und ehemals bedeutender Bauwerke in Deutschland neu entfacht. Der Beginn dieser zivilgesellschaftlichen Debatten über das bauliche Antlitz Dresdens fällt mit der friedlichen Revolution in der DDR im Jahr 1989 zusammen. Die neu erreichte Freiheit erlaubte Dinge, an deren Realisierung man bis dahin nicht (mehr) zu denken gewagt hätte. Begleitet wurden diese Rekonstruktionen immer wieder von kontroversen, bisweilen auch aggressiven Diskussionen und Auseinandersetzungen über den Wert und die Sinnhaftigkeit des Wiederaufbaus, wie sie sich schon beim Wiederaufbau des Goethehauses in Frankfurt/M. zwischen 1947und 1951 gezeigt hatten.

Wenn man heute auf das Rekonstruktionsgeschehen in den beiden deutschen Staaten zurückblickt, kann man von drei Phasen sprechen. In den ersten beiden Phasen ab 1949 bis 1955 und von 1975 bis 1989 verliefen diese in der alten Bundesrepublik und der DDR in ihren Ergebnissen ähnlich, jedoch getrieben von einem Konkurrenzdenken der unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme, mit unterschiedlichen Zielstellungen und Motivationen.

Erste Rekonstruktionsphase 1945 bis 1955: Wiederaufbau und Rekonstruktion

Während in Westdeutschland, unterstützt durch die westlichen Alliierten – England, Frankreich und die USA –, bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg demokratische Strukturen aufgebaut wurden, entstand in Ostdeutschland eine von der SED-Parteizentrale in Berlin aus zentral gesteuerte Verwaltung nach sowjetischem Vorbild. Die demokratischen Strukturen Westdeutschlands ermöglichten hingegen unterschiedliche Ansätze beim Wiederaufbau. Während etwas traditioneller geprägte Städte wie Lübeck, München, Nürnberg, Münster oder Freiburg sich eher für einen Wiederaufbau auf den alten Parzellen im alten architektonischen Duktus sowie in Kooperation mit der alten Eigentümerschaft entschieden, wurden ihrem Selbstverständnis nach modernere Städte wie Hannover, Stuttgart, Kassel oder Pforzheim komplett umgebaut, und zwar nach den bereits in den 1920er Jahren entstandenen funktionellen Wertmaßstäben. In vielen Fällen griff man dabei als Argument auf eventuell auftretende Probleme bei der Evakuierung im Katastrophenfall zurück – mutmaßlich war durch die Enge der Straßen in den historischen Zentren die Zahl der Luftkriegstoten so hoch gewesen. So trieb man selbst in die alten Stadtkerne hinein heute zumeist noch existierende große Verkehrsschneisen. In Ostdeutschland wurde auch die Baupolitik zentral von Berlin aus gesteuert. Spätestens nach 1950, als unter maßgeblicher Mithilfe des Dresdner Stadtbaurates Kurt W. Leucht die 16 Grundsätze des Städtebaus der DDR entwickelt wurden, waren mit dem Wiederaufbaugesetz der DDR von 1950 alle Alteigentümer innerstädtischer Grundstücke enteignet worden, um die notwendige Freiheit für eine neue Stadtbaupolitik zu gewinnen. Nach dem Tod von Herbert Conert 19461, der auch aus Kostengründen einen Wiederaufbau auf den alten Strukturen, wie zum Beispiel in München, angestrebt hatte, wurden unter seinem Nachfolger Kurt W. Leucht große Teile der Altstadt und Inneren Neustadt, darin auch noch erhaltene und wiederaufbaufähige Teile, abgeräumt. Ab 1950 war Dresden eine der fünf als „Wiederaufbaustädte“ deklarierten Städte der DDR, auf die ein besonderes Augenmerk gelegt werden sollte. Die durch den Abriss ganzer Gebäudeensembles entstandene Weite in der Innenstadt konnte man bis 1989 jedoch nicht wieder mit Wohn- und Geschäftsbauten füllen. Dafür reichten sowohl die finanziellen Mittel als auch die Baukapazitäten der DDR nicht aus. Selbst heute, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989, stehen noch viele innerstädtische Brachflächen für Baumaßnahmen zur Verfügung.

Zweite Rekonstruktionsphase 1975 bis 1990: Impuls aus „West“, Umsetzung in „Ost“

Die zweite Wiederaufbauphase wurde inspiriert durch die Hausbesetzerszene in Frankfurt-Westend. Dieser Impuls führte in Westdeutschland dann zum Denkmalschutzjahr 1975 und letztlich daraus resultierend auch zum Wiederaufbau der Römerberg Ostzeile unter dem damaligen Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann. Anschließend erfolgte in Hildesheim der Abriss des erst 1962 errichteten modernen Hotels „Rose“, um ab 1986 Platz zu schaffen für die Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses. Alle diese Initiativen entstanden aus einer aktiven Bürgerschaft heraus, um anzuknüpfen an die Geschichte und den Genius loci des jeweiligen Ortes.2

Zeitgleich mit den Entwicklungen in Westdeutschland verlief die Entwicklung in der DDR, allerdings mit einem ganz anderen Ziel. Dort gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine aktive Bürgerbewegung im heutigen Sinne; alles war staatlicherseits gelenkt. Für die SED-Funktionäre im Politbüro unter Vorsitz von Partei- und Staatschef Erich Honecker spielte vor allem die internationale Anerkennung des Staates DDR eine wesentliche Rolle für das Handeln. Dieser eigenständige deutsche Staat mit sozialistischem Vorzeichen ließ sich vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR mit seinen angeschlossenen Universitäten in Greifswald und Jena seine eigene deutsche Geschichte erinnerungskulturell modernisieren und als geschlossenes Geschichtsbild entwerfen. So wurden die bisherigen sogenannten „Klassenfeinde“ Martin Luther, Karl Friedrich Schinkel, Friedrich II. und Karl May plötzlich als Vorkämpfer auf dem Weg des Sozialismus vereinnahmt, die folglich auch offizielle Ehrungen empfangen durften. Das bedeutete eine komplette Abkehr von der bisherigen Parteidoktrin und Geschichtspolitik. So lässt sich auch besser verstehen, warum die DDR zu dieser Zeit abrückte von den damals keine fünf Jahre zurückliegenden Kirchenschleifungen etwa der Paulinerkirche in Leipzig oder der Sophienkirche in Dresden. Keine Ruine, die noch stand, sollte künftig noch fallen müssen. So wurde selbst der auf Betreiben des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. entstandene Dom in Berlin bis 1984 äußerlich wieder instand gesetzt. Die in Westdeutschland zur selben Zeit einsetzende Wiederaufbaubewegung wurde von der SED-Führung wahrgenommen und fand letztlich auch in der DDR, allerdings gelenkt durch staatliche Maßnahmen, ihren Widerhall. Aus dieser Ausgangslage entwickelten sich ab Mitte der 1970er Jahre die Aufbauprojekte für den Gendarmenmarkt (Platz der Akademie) und das Nikolaiviertel in Berlin sowie den Wiederaufbau des Neumarktes in Dresden. Die Rekonstruktion der Dresdner Semperoper sollte dafür der Ausgangspunkt sein. Wie sehr die SED-Führung dabei ihrem System- und Konkurrenzdenken verhaftet war, zeigt ein Zitat von Erich Honecker zur Wiedereröffnung des Schauspielhauses anlässlich der 750-Jahr-Feier von Berlin am Gendarmenmarkt: „Buchstäblich aus Ruinen auferstanden, wird das Berlin von heute immer mehr zum Symbol für den Siegeszug des Sozialismus auf deutschem Boden.“ Ursprünglich sollten West- und Ostberlin eine gemeinsame 750-Jahr-Feier ausrichten.
Das wurde seitens der Staats- und Parteiführung der DDR jedoch abgelehnt.
In Dresden hingegen kam man, da keine Sondermittel wie in Berlin zur Verfügung standen, über die Planung bis zum „Jahr 1989 nicht hinaus. Im Gegensatz zu Westdeutschland, wo das Denkmalschutzjahr 1975 eine bedeutende Rolle für die Sanierung der Altbausubstanz gespielt hatte, war diese in der DDR eher zum Problemfall geworden. Ein wichtiges Thema für die entstehende DDR-Friedens- und Umweltbewegung als erste Bürgerbewegungen unter dem Dach der evangelischen Kirche wurde der in vielen Kommunen der DDR unübersehbare Verfall der Altbausubstanz. Man kann vor
diesem Hintergrund ebenso davon sprechen, dass die staatlichen Wiederaufbauprojekte von der SED-Parteiführung als eine Art Ersatzprojekt geführt wurden, um den grassierenden Verfall der Altbausubstanz zu überdecken. Der Zustand der ostdeutschen Altstädte (ironisch kommentiert unter dem Slogan „Ruinen schaffen ohne Waffen“) war letztlich auch einer der Punkte, die zum Fall des DDR-Systems 1989 führten.

Mit dem „Ruf aus Dresden“ zum Wiederaufbau der Frauenkirche am 13. Februar 1990 begann in der Elbmetropole die Umsetzung einer Idee, die bereits in den 1950er Jahren aufgekommen war, jedoch erst 1978 mit der Diskussion um die Wiedererrichtung der Dresdner Frauenkirche und des Neumarktes Eingang in Beschlüsse der Partei- und Staatsführung der DDR gefunden hatte.3 Der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche und des Dresdner Neumarkts war somit eine verspätete Umsetzung älterer Pläne nach 1990. Wenn die gesellschaftlichen Voraussetzungen vorhanden gewesen wären, hätte ein Wiederaufbau, wie zum Beispiel in München, schon in den 1950er Jahren stattgefunden.

Dritte Rekonstruktionsphase 2000 bis heute: Rückkehr des Alten in neuem Gewand

Immer schon sind mit Rekonstruktionsfragen auch Fragen nach der Identität von Menschen und Gesellschaften, nach Heimat und Herkunft verbunden. Eine Ausstellung „Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ von Winfried Nerdinger hat dies vor Jahren in München sehr gut gezeigt. Rekonstruktionsbefürworter können sich dabei auf die ICOMOS-Erklärung von Dresden aus dem Jahr 1982 stützen. Darin heißt es in Artikel 7 und 8: „Bei der Wiederherstellung von kriegszerstörten Denkmalen sind mannigfaltige methodische Möglichkeiten entwickelt worden. Die Vielfalt der Überlegungen ist in jedem einzelnen Fall unerläßlich. Sie reicht von der Konservierung eines Denkmals wegen seines Symbolwertes bis zur Wiederherstellung einer unverzichtbaren städtebaulichen Situation. […] Die vollständige Rekonstruktion von weitgehend zerstörten Denkmalen ist als ein Ausnahmefall zu betrachten, der nur aus besonderen Gründen berechtigt ist, wie sie sich aus der Zerstörung eines Denkmals von außerordentlicher Wirksamkeit durch den Krieg ergeben.“

Nach der Wiedervereinigung entwickelte sich mit dem Fortschreiten der Wiederaufbaumaßnahmen von Frauenkirche und Neumarkt eine dritte Wiederaufbauphase in den neuen Bundesländern. Diese nahm sich Dresden zwar zum Vorbild, wurde aber nicht zuletzt auch durch die Globalisierung architekturtheoretischer Diskurse und städteplanerischer Aktivitäten befeuert. Erneut flossen viele Erfahrungen aus Dresden in diese Wiederaufbaumaßnahmen anderer ostdeutscher Städte und Kommunen ein.4

Nun kann man fragen: Ist Rekonstruktion denn modern? Dies kann man klar mit „Ja“ beantworten, denn gerade der Rückgriff auf alte Planungen, Bauvorhaben und Architektursprachen ist ein typischer Ausdruck unserer Zeit. „Modern“ zu sein bedeutet ja nichts anderes, als dem neuesten Stand der geschichtlichen, gesellschaftlichen, kulturellen oder technischen Entwicklung zu entsprechen. Alle Gebäude am Dresdner Neumarkt, am Dom-Römer in Frankfurt oder auch am Alten Markt in Potsdam sind Neubauten nach heutigen Maßstäben, genügen heutigen Anforderungen und sind Ausdruck aktueller gesellschaftlicher Überzeugungen.5 Insofern ist auch das, was am Dresdner Neumarkt entstanden ist, modern und zeitgenössisch zugleich, hier verbunden mit der erklärten und wohlbegründeten Aufgabe, ein Bild vom Verlorenen zu vermitteln. Es wird allerdings immer gesellschaftliche Gruppen geben, die das, vor dem Hintergrund bestimmter ideologischer Überzeugungen oder aufgrund eines anderen Geschmacksempfindens, anders sehen (wollen).

Als die Mitglieder der Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden e.V. (GHND) 2002/03 ein Bürgerbegehren mit der Fragestellung „Ja! Zum Historischen Neumarkt“ durchführten, unterschrieben dafür über 80 000 Menschen, davon 63 338 Dresdner Bürger. Hier könnte man argumentieren, das waren alles Dresdner Bürger, die das alte Dresden noch kannten – was jedoch nicht stimmt. Die GHND hat aus diesem Grunde im vorigen Jahr bei der Technischen Universität Dresden eine repräsentative Umfrage zur Befragung von Dresdner Bürgern in Auftrag gegeben. In dieser kam heraus, dass sehr viele den jetzt entstandenen Neumarkt sehr gut finden, aber eine überwiegende Mehrheit den Postplatz ablehnt. Das Ergebnis der Umfrage soll in Kürze veröffentlicht werden. Woran liegt denn nun dieses Urteil? Einzuschließen in eine weitere Bearbeitung dieser Fragestellung wäre zudem die Situation am Straßburger Platz. Denn für alle drei hier erwähnte Plätze galt die gleiche Ausgangssituation – sie waren unbebaut, am Straßburger Platz wurden sogar die dort stehenden Hochhäuser abgerissen.

Der Direktor des Instituts für Stadtbaukunst an der Technischen Universität in Dortmund, Professor Christoph Mäckler, hat die allgemeine Situation von Rekonstruktion, Wiederaufbau und Neubebauung in deutschen Städten 2015 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ treffend beschrieben: „Wenn wir landauf, landab Häuser, ja ganze Stadtteile historisch neu errichten, so ist dies nichts als der hilflose Aufschrei einer Gesellschaft, die nach städtischer Geborgenheit sucht, die wir Architekten unserer Gesellschaft offenbar in den vergangenen Jahrzehnten vorenthalten haben. Solange wir dies nicht verstehen, wird unsere Architektur belanglos bleiben.“

Inzwischen hat das Institut für Stadtbaukunst den sozusagen schwerkranken Patienten Stadt, Stadtraum und Architektur diagnostiziert und zehn Grundsätze aufgeschrieben, die in dieser Form auch für alle drei Plätze in Dresden gelten könnten. Im Falle des Neumarktes treffen sie zu; im Falle von Postplatz und Straßburger Platz gelten sie aber nicht.6 Eine Verbesserung der Platzsituation zum jetzigen Zeitpunkt scheint aussichtslos zu sein. Das klingt pessimistisch – und ist es auch. Aber niemand – auch Architekten und Stadtplaner nicht – kann bisher eine Platzanlage mit avantgardistischer Architektur in Deutschland nennen, die alle als schön bezeichnen würden und die von den Bürgern angenommen wird. Als Baumeister Schinkel im 19. Jahrhundert seine Bauprojekte verwirklichte, fanden ihm zu Ehren Fackelzüge statt. Davon sind wir meilenweit entfernt – was aber auch daran liegen könnte, dass vielen Bürgern
Fackelzüge als nicht mehr zeitgemäß erscheinen.

Wenn wir von schöner, avantgardistisch-moderner Architektur sprechen, dann reden wir immer nur von solitären Bauten. Allen diesen Gebäuden gemeinsam ist die Tatsache, dass es sich vor allem um öffentliche Profanbauten handelt. Wir reden dabei in der überwiegenden Menge über private Profanbauten. Diese können in dem einen oder anderen Fall auch eine hohe gestalterische Qualität besitzen, was unbestritten ist. Die im Fokus auch dieses Heftes stehenden Gebäude der Ostmoderne, die man als etwas Besonderes bezeichnen kann, sind ebenfalls allesamt Solitäre. Über deren Qualität lässt sich in dem einen oder anderen Fall streiten. Deshalb ist hier die Denkmalunterschutzstellung zu prüfen.

Plädoyer für eine Neubesinnung

Es kann jedoch nicht die Lösung sein, nur Solitäre nebeneinanderzustellen, wie das am Postplatz oder am Straßburger Platz passiert ist – und das soll dann rein additiv in summa „Stadt“ ergeben. Wir können nicht dem freien Markt alles im Selbstlauf überlassen und dann erwarten, dass wir schöne Straßen und Plätze erhalten. Die Investoren und Fonds, zumal sie überwiegend nicht aus dem Dresdner Stadtgebiet kommen, haben ihre eigenen Interessen, nämlich in der Regel Gewinnmaximierung für ihre Eigentümer. Offenbar sind weitere „Postplätze“ und „Straßburger Plätze“ mit Solitärkisten von mehr oder minder guter Qualität, die überall auf der Welt herumstehen könnten, in den Augen vieler unserer Mitbürger nicht wünschenswert. So bleibt uns allen, der Verwaltung, dem Stadtrat und den Bürgern wohl wirklich nichts anderes übrig, als das Stadtplanungsamt zu ertüchtigen, über eine stärkere Parzellierung sowie andere Gestaltungsvorgaben nachzudenken, diese dann auch umzusetzen und dies nicht dem freien Markt zu überlassen.

Ende des 19. Jahrhunderts, nach Beginn der Industrialisierung, hat man, um das große Bevölkerungswachstum in den Städten auffangen zu können, Stadterweiterungsämter gebildet. Grundstücke wurden mit kommunalen Mitteln bewusst für die Entwicklung der Stadt aufgekauft. Die Stadterweiterungsämter planten Plätze und Straßen im Stadtgebiet selbst, legten die Gestaltung in engen Grenzen fest und gaben die Parzellierung vor. Weitere städtische Ämter waren mit der Erschließung dieser Parzellen beschäftigt. Erst dann begann der Verkauf an Spekulanten. Heute sagen wir dazu Investoren und Bauträger. Es wäre deshalb sehr vernünftig, wenn wir uns daran erinnern würden, um an die großartige Geschichte Dresdner Stadtbaukunst wieder anzuknüpfen. Dabei könnten die zehn Grundsätze des Instituts für Stadtbaukunst ein Maßstab sein. Ein schöner Nebeneffekt der Parzellierung wäre im Übrigen, dass sich Dresdner Bürger wieder eine Parzelle leisten könnten und die Mieteinnahmen nicht in andere Städte abfließen.

Wie dem auch sei, eins ist sicher: Dresden ist und bleibt die Hauptstadt der Debatte um Städtebau- und Architekturfragen, wie der Publizist und Moderator Dankwart Guratzsch (DIE WELT) 2016 in einer der von der Gesellschaft Historischer Neumarkt organisierten Veranstaltung einmal sagte. Das Interesse scheint in keiner anderen deutschen Stadt so groß zu sein wie hier. Das aber wird wohl nicht an dem hohen Zerstörungsgrad im Zweiten Weltkrieg liegen, denn den hatten auch andere Städte zu erleiden, sondern den Erfahrungen mit den später abgeräumten, weiträumigen, ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Flächen.

Der gerade zu Ende gegangene städtebauliche und architektonische Wettbewerb zum Neustädter Markt hat großartige Ergebnisse zustande gebracht und ein enormes Interesse an den Wettbewerbsergebnissen bei den Dresdner Bürgern erzeugt. Jetzt muss über eine andere Verkehrsführung für den Individualverkehr ernsthafter nachgedacht werden. Das wird der Urbanität und Aufenthaltsqualität auf dem Platz gut tun. Dafür müssen in den nächsten fünf Jahren die Voraussetzungen geschaffen werden. Wir sollten beim Neustädter Markt versuchen, die vom Institut für Stadtbaukunst vorgeschlagenen Grundsätze einzuhalten. Daraus ergibt sich die Chance, diesem einmaligen Stadtraum eine Qualität zurückzugeben und dabei bis auf wenige Rekonstruktionen, die ehemaligen Denkmale an der Großen Meißner Straße, mit moderner, kleinteiliger Architektur einen großartigen Stadtraum mit hoher Urbanität zu schaffen. Die Ergebnisse des Wettbewerbs aus den ersten beiden Plätzen müssten dazu in nächster Zeit in einen Bebauungsplan und eine Gestaltungssatzung gegossen werden. Private Investoren warten darauf. Es wäre ein Ziel für Dresden, den Platz bis 2035 entsprechend umzubauen. Mit dieser Umsetzung kann Dresden weiter Motor einer städtebaulich-architektonischen Entwicklung und Diskussion in Deutschland bleiben, und zwar unter der Zielstellung: „Wie gehe ich mit Stadträumen im 21. Jahrhundert um?“

 

1 Conert (1886–1946) leitete ab 1922 das Dresdner Baupolizeiamt; im Jahr 1932 wurde er Leiter des Stadterweiterungsamtes. Als ausführender Architekt leitete er gemeinsam mit Karl Paul Andrae von 1933 bis 1936 die von Paul Wolf geplante Neugestaltung des Dresdner Königsufers unter nationalsozialistischen Vorzeichen. 1936 übernahm Conert die Leitung des Stadtplanungsamts der Stadt Dresden. Von 1945 bis zu seinem Tod war Conert Dresdner Stadtbaudirektor und hatte damit die Leitung der Bauverwaltung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg inne. Er erarbeitete in dieser Zeit den „Großen Dresdner Aufbauplan“, die erste städtebauliche Konzeption zum Wiederaufbau des stark zerstörten Dresdens. Sein Ziel war eine Vermittlung zwischen Tradition und Moderne beim Wiederaufbau der Stadt Dresden. Nach Kriegsende war Conert außerdem Mitbegründer der CDU in Dresden und Sachsen.

2 Dazu grundsätzlich Nerdinger, Winfried: Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte, München 2010.

3 Vgl. dazu Kulke, Torsten: Das Schicksal der Rampischen Straße in Dresden nach 1945 und der Wiederaufbau des Hauses Nr. 29. In: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und Gegenwart Jg. 16 (2012), S. 65–100; ders.: Wiederaufbauplanungen zum Dresdner Neumarkt und kulturhistorischen Zentrum in den Jahren 1970–1990. In: Die Dresdner Frauenkirche. Jahrbuch zu ihrer Geschichte und Gegenwart Jg. 19 (2015), S. 157–196.

4 Kulke, Torsten (Hg.): Wie bauen wir Stadt? Die Rekonstruktion des Dresdner Neumarktes und der Streit um Tradition und Moderne im Städtebau, Petersberg 2015.

5 Maaß, Philipp: Die moderne Rekonstruktion. Eine Emanzipation der Bürgerschaft in Architektur und Städtebau, Regensburg 2015.

6 Wer das überprüfen möchte, schaue auf: www.stadtbaukunst.de/publikationen/positionspapiere/10-grundsaetze/.